Lyrik

Das moderne Gedicht

Im Verlauf der Literaturentwicklung bildete sich in der Gattung der Lyrik eine Formenstrenge heraus, deren Gesetze erst im 20. Jahrhundert variiert und durchbrochen wurden. Es begann das Zeitalter der modernen Lyrik, die sowohl Form als auch Inhalt als auch Motive neu erfand. Die spezifischen, konkreten Lebensbedingungen des Alltags erhielten Einzug in die Gedichte. Damit verbunden war eine stark subjektiv gefärbte Aussage, die dem Erleben eines entfremdeten Daseins in einer undurchsichtigen, komplexen Realität Ausdruck verlieh. Zukunftsängste wurden mal sachlich und nüchtern, mal hochemotional dargestellt.

Passend zum Inhalt konnte auch die äußere Form nicht unberührt bleiben und durchlebte eine Revolution: Die augenfälligste Neuerung war der Wegfall des Reimschemas, der Strophen, des Metrums. Die Sprache passte sich der Schilderung des subjektiven Erlebens an: der Einsatz von Satzbrüchen, vielfachen Ellipsen, der Verzicht auf Para- und Hypotaxen, die Verdichtung von Ausdrücken, die Verwendung abstrakter Elemente, der Rückgriff auf bis dahin in der Lyrik verpönte Alltags- und Fachsprache.
Vor dieser Folie sind auch die hier präsentierten Gedichte zu lesen, die keinem traditionellen Schema folgen, sondern eine ganz eigene Formen- und Motivsprache entfalten.


Der Limerick

Um 1820 wurde der Limerick in England aus der Taufe gehoben. Es sollte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dauern, bis diese Gedichtform im anglo-amerikanischen Raum eine größere Verbreitung gewann. Maßgeblichen Einfluss an dieser Entwicklung hatte das 1843 erschienene Werk „A Book of Nonsense“ aus der Feder Edward Lears. Die darin veröffentlichten 107 Limericks, die Lear selbst illustrierte, wurden im Laufe der Zeit weltbekannt.
Es bedurfte erst der meisterlichen Übersetzung Hans Magnus Enzensbergers („Edward Lears Kompletter Nonsens“), um den Limericks im deutschsprachigen Raum Gehör zu verschaffen. Georg Bungter und Günter Frorath schufen mit „Limerick teutsch“ 1969 einen weiteren wichtigen deutschen Limerick-Beitrag.
Die Limericks halten sich streng in der äußeren Form an das traditionelle Reimschema „aabba“. Weiteres Charakteristikum ist der Scherz, der sich zwar nicht zwingend, gleichwohl in vielen Limericks wiederfindet. Aufgrund ihrer fünfzeiligen Kürze müssen Limerick-Poeten äußerst dicht formulieren, um nach der Themenvorstellung schnell zur Pointe zu gelangen.


Der Haiku

Die seit dem 17. Jahrhundert bestehende Gedichtform sticht aus der Masse der Lyrikgattungen hervor. Der Haiku stammt ursprünglich aus Japan und trat im Laufe der Zeit seinen Siegeszug um die ganze Welt an. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kam der Haiku im europäischen Literaturraum auf. Es ist nicht zuletzt Rainer Maria Rilke zu verdanken, dass dieses japanische Gedicht auch im deutschsprachigen Raum seinen gebührenden Widerhall finden konnte. Bestechend an dieser Gedichtform ist ihre Kürze. In drei Versen, jeweils bestehend aus fünf, sieben und fünf japanischen Moren, mussten traditionelle Dichter in einer Klarheit und Dichte formulieren, die Unwichtiges oder Wiederholendes schlicht nicht zuließen.
Den Moren entsprechen nicht zwingend deutsche Silben, weshalb das strenge deutsche Silbenschema 5-7-5 nur eine ungefähre Orientierung bieten kann. Carminis präsentiert sowohl Haikus mit klassischem Silbenschema (5-7-5), als auch solche, die die feste Silbenzahl durchbrechen und als moderne Haikus freien Stils verfasst sind.


© 2021 Nicolette Marquis https://www.carminis.de